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Wahrnehmung ohne Wertung
Es klingt so einfach und doch stellt es für viele eine der schwierigsten Herausforderungen überhaupt dar: Dinge wahrzunehmen ohne sie automatisch zu bewerten.
Das ist verständlich, schließlich hat sich die Natur bei der Bewertungs-Automatik etwas gedacht: Will man nicht gefressen werden, muss eine Gefahr hinter dem Busch sofort und ohne jeden Zeitverlust
als solche identifiziert (bewertet) werden. Wer da zu lange überlegt, kann Pech haben.
Eben dazu (zum Überleben und der Arterhaltung) hat die Natur einen Reiz-Reaktions-Automatismus installiert, der sofort Anweisungen bereitstellen kann. Zu diesem Zweck greift er auf
einen lebenslang freud'- und leidreich befüllten Pool an unmittelbar abrufgeeigneten, vorgefertigten Bewertungen zurück (die sogenannten "Erfahrungen").
Erkennbar sind solche Bewertungen an Formulierungen wie z. B. "Aus Erfahrung weiß ich", "das geht so nicht", oder kürzer: "Nein!".
Wozu noch keine Erfahrung besteht (z. B. zu einer neuen Idee, etwas Unbekanntem mit vermutetem Folgenreichtum), besteht eben auch kein vorgefertigtes
Antwortmodul, das in das Reiz-Reaktionssystem eingespeist werden könnte - also sucht es sich ein vorhandenes, meist die Flucht bzw. das schützende "Nein".
Die Fähigkeit, diesen automatisch ablaufenden Reiz-Reaktions-Mechanismus mitsamt dem Aufsteigen der Emotionen noch innerhalb der archaisch einprogrammierten Reaktionszeit zu unterbrechen
und eine abgespeicherte vorgefertigte Bewertung durch eine bewusst ausgesuchte Neubewertung zu ersetzen,
unterscheidet den Menschen vom Tier, das Zivilisierte vom Wilden. Dabei muss das Zivilisierte das Wilde nicht ausschließen:
es kann sich aktiv und bewusst zur Wildheit entscheiden und ihr mit aller Leidenschaft hingeben - umgekehrt nicht.
In diesem Gewinn der Entscheidungsfreiheit steckt die Entwicklung.